ORNA RALSTON 

LESEPROBE


HERZSCHLAG UND TROMMEL

Mein Weg zur Schamanin












Buch erhältlich im Handel oder bei spuren.ch

KRANK SEIN ERLAUBT


In meiner Arbeit begegne ich vielen Menschen, die aus irgendwelchen Gründen aus dem Gleichgewicht geraten sind. Mal bringt ein schmerzendes Knie jemanden zu mir, mal ein gebrochenes Herz, mal ein Gefühl, dass das Leben an einem vorbeizieht und man das Wesentliche verpasst. Mal ist es dies und mal ist es das. Mich berührt seit langem, wie viele äussern, dass sie sich für ihr Leiden

schuldig fühlen. Eine Klientin hat es letzthin klar ausgesprochen: „Können Sie mir bitte sagen, was ich falsch gemacht habe?“



Für mich ist jeder Mensch ein Mysterium. Wenn jemand mir erlaubt ihn oder sie zu begleiten, begleite ich immer eine ganze Welt. Es gibt ja so viele Gründe, warum etwas schmerzen kann. Es kann eine Lebensführung sein, die in Disharmonie geraten ist. Es kann vererbt sein und sich erst jetzt bemerkbar machen. Es kann eine Innere oder äussere Fehlhaltung sein. Es kann eine gespeicherte Erinnerung oder eine Antwort aus einem letzten Leben sein. Es kann ein Fluch sein, der auf einem lastet. Es kann eine körperliche, geistige und/ oder emotionale Vergiftung sein. Ich könnte noch sehr viele Gründe aufzählen, warum jemand krank wird, und hoffe, diese kleine Liste gibt eine Ahnung davon, wie komplex Gesundheit ist.


Es gibt aber auch Menschen, die ein bärenstarkes körperliches, geistiges oder/ und emotionales Immunsystem haben. Bei denen macht sich eine unpassende Lebensführung gar nicht oder eher spät bemerkbar. Die können rauchen, fluchen und rücksichtslose Entscheidungen treffen, während sie sich bester Gesundheit erfreuen. Auch ohne Sport zu treiben! Wie unfair ist das denn? 


Aber Krankeit ist keine Strafe oder Busse, die von irgendwoher kommt oder von jemandem abgetragen werden muss. Es gelten auch nicht die einfachen Gleichungen von Rückenweh = du hast dir zu viel Last aufgebürdet. Ohrenweh = willst du etwas nicht hören? Verstopfte Nase = wovon hast du die Nase voll?


In der schamanischen Arbeit, wie ich sie kenne, begegne ich durch einen Menschen nicht nur seiner Persönlichkeit, seinem Wesen,  sondern auch seinen Verwandten, Freunden, Nachbarn, ja sogar seinen Feinden, aber auch den Feinden, Leiden und Freuden derer, die ihm nahe stehen. Des weiteren begegne ich den Tieren, Pflanzen, Steinen, Ländern, Orten für die sein Herz schlägt – oder dagegen. Und das ist noch nicht mal alles. Ich begegne seiner Phantasie, den Bildern und Berichten, die er im Fernsehen oder in der Zeitung aufgeschnappt hat, und ich treffe auf Erzählungen, die ihn bewusst oder unbewusst beeinflussen. Kurz gesagt: jeder Mensch ist die ganze Schöpfung. Wenn man sich das mal so richtig überlegt und sich fragt, was das wirklich bedeutet, dann kommt man aus dem Staunen nicht mehr raus.

Und zu guter Letzt wage ich noch einen heiklen Gedanken auszuschreiben: Ist Krankheit immer etwas, das korrigiert werden sollte? Könnte es sein, dass es manchmal – also unter Tausenden von Möglichkeiten - auch etwas ist, das genau so wie es ist, gut ist?


Veröffentlicht im Magazin Spuren Frühling 2013

EINE FRIEDLICH GESTELLTE FRAGE


Seit ein paar Tagen häufen sich in der Schweiz mund- und nasenvermummte Gestalten auf den Strassen und in den Einkaufscentern. Ich frage mich, ob denn die alle ansteckend sind und mich davor bewahren mich von einem Tröpfchen ihres Atems zu infizieren. Denn soweit ich weiss, hilft eine Gesichtsmaske nur, andere nicht zu verseuchen. Also verlasse ich jedesmal mit wiedererwachter Dankbarkeit den Laden, die Strasse, den Ort.

Beim Durchsuchen meiner Schubladen finde ich leider vieles aber nicht dieses eine Ding. Manche nähen es mittlerweilen selber, aber dahingehend bin ich so gar nicht talentiert. Also wühle ich weiter. Ohne Erfolg. Gestern dann lese ich von einer Bekannten, ob es auch eine Gesichtsmaske mit Clownnase gebe. Bingo! Ich habe sogar drei Clownnasen! Zwar ohne Mundschutz aber immerhin…

Und dann, als sich mein Körper am Abend zur unverdienten Ruhe legen möchte beginnt mein Geist Wellen zu schlagen. Ich sag euch  W e l l e n ! Die Vorstellung, dass ich mit einer meiner Clownnase im Gesicht zum Einkaufen fahre wirbelt meine Lust zu Phantasieren herum. Ich male mir aus… Ja schon das aus der Türe gehen mit einer Clownnase im Gesicht bringt mein Herz zum rasen. Als ob es in den Körper ruft: „Weg! Alle Frau wegrennen! Mir nach!“

Sowas. Ich gehöre bestimmt nicht zur sich schämenden Sorte was das Clownnaseaufhaben betrifft. Was in mir drin aber vorgeht, ist spannender als jeglicher Netflixfilm den ich gesehen habe. Und so warte ich mit ein bisschen Schlaf zwischendurch die Nacht ab auf weniger Adrenalin.

Heute Mittag dann ist es soweit. Ich möchte es wissen. Ich setze mir die Sonntagsnase auf und setze mich aufs Rad. Gott, bin ich nervös! Ich breche mehrere Regeln auf einmal:


- Vermummungsverbot. Ok, halb so wild, das ist im Moment sehr gelockert.

- Nase gehört nur auf die Bühne, bzw. dorthin, wo ich spiele. Ich spiele aber nicht. Dafür habe ich mich für meinen Ausflug bewusst entschieden.

- Ausscheren aus den zwei möglichen Herden: Wenn ich eine Schutzmaske hätte, würde ich dazugehören. Ich bin aber quasi „unten ohne“. Also nur die Nase ist bedeckt. Und wenn ich keine an hätte, würde ich zu den Nichtvermummten gehören. Ich hab aber wie gesagt, eine Schutznase auf.


Auf dem Rad bin ich froh, dass ich sitze, denn meine Beine fühlen sich noch nicht bereit zum gehen an. Also fahre ich ein bisschen weiter als geplant. Auf der Fahrt frage ich mich, wie ich eigentlich herumkucken soll. Ich spiele ja nicht. Ich hab nur eine Nase auf der Nase. Ich möchte rufen: „Leute, keine Angst! Ich bin nicht auf Aufmerksamkeit aus! Ich möchte nur eine Erfahrung machen. Wissen, ob und was dieses Outfit mit E u c h macht." Ich möchte nur liebevolle Fragezeichen in die Stadt hinaus senden: Z.B. „Findet ihr, dass das Gesichtsmaske tragen wirklich was bringt?" Oder: "Gehts euch gut? Habt ihr heute schon gelacht?“ Oder: „Habt ihr euch informiert, ob die Massnahmen zum jetzigen Stand des Wissens noch passen?“

Wenn ich es nicht schon wüsste, würde mir spätestens im Laden aufgefallen sein, dass ich in der Schweiz bin. Keine Reaktion. Nicht im Laden. Nicht auf der Strasse. Nicht von der Polizei an der ich gemütlich vorbei fahre. Nicht von vermummten und auch nicht von nackten Gesichtern. Nur ein paar wenige Miniblickkontakte. Aus denen kann ich nur ahnen, dass sie meinen, ich hätte beschlossen, die abgesagte Fastnacht heute nachzuholen. Oder ich sei auf dem Weg zu einem Kindergeburtstag. Wie lustig. Da dachte ich, ich würde liebevoll, fein und leise einen kleinen aufregenden Stein ins Rollen bringen. Einer, der viele kleine aufregende Steine nach sich ziehen würde und komme mit vollen Einkaufstaschen aber ohne Stein Zuhause an.

Also ich hatte heute genug Action für eine volle Woche Zuhausebleiben!

DENN SIE WISSEN WAS SIE TUN


Vor ca. zwei Wochen habe ich mich voller Enthusiasmus in die Facebookwelt gestürzt. Ich war schon lange Mitfreundin und habe meinen Account vorallem zum entdecken von Musikvorschägen genutzt. Nun, da beschlossen wurde, dass wir zu unserem eigenen Schutz und zum Schutz anderer Physical Distancing betreiben sollen, dachte ich: wann, wenn nicht jetzt? Und so habe ich getextet und mich über die Reaktionen gefreut und darüber, dass es überhaupt welche gab.


Ich tauchte in Überlegungen und Ansichten von Andern ein, surfte mich durch lachende, genervte und weinende Herzen... Und dann? Dann wurde es in mir stiller und stiller. Nicht ruhiger. Stiller. Oder eher Stummer. Es war wie wenn die Welle mich auf meinem Surfbrett in hohem Bogen nach ungekonnter Anfängerinnenfahrt auf den harten Sand ausgespuckt hat. So in der Art: Das ist nicht das Meer! Das ist das Mehr. Ein M, ein E und dann dieses H daneben vor dem R, das Fülle verspricht und Leere erzeugt.


Und nun sitze ich da, kucke in dieses Mehr, das mir so einen abenteuerlichen Ritt durch Richtig, Falsch, Wichtig und Nichtig ermöglicht hat. Der Nervenkitzel, das Adrenalin hat sich gelegt und das Bedürfnis nach Normalität stellt sich ein. Nach einer Stille, die den feinen Duft von Frieden atmet. Einer Stille, die das Laute und das Grelle sowie das Leise und das Feine und alles dazwischen anhören kann ohne zu polarisieren aber doch partei zu ergreifen wenn nötig. Denn sich raushalten aus allem kann ja auch nicht die Haltung sein, die zu … ja zu was? führt.


Zur Zufriedenheit. Ist es nicht das, was wir alle suchen? Und gehen nicht genau da die Meinungen auch auseinander? Ich kann mit diesen Zeilen nicht alles benennen, was mir dazu einfällt. Aber ich erlaube mir folgendes rauszupicken: Der Ruf nach einer neuen Zeit ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst. „Endlich ist es da! Das neue Zeitalter wird eingeläutet!“ Als ob es ein Tor gibt, durch das wir alle schreiten werden und wo auf der andern Seite neue Verhältnisse auf uns warten wie Blumenduft in den wir uns schonmal in der Vorstellung einer liebevolleren, gerechteren Welt der Wirs hineinlegen können.


Ein neues Zeitalter ist der Wunsch nach Veränderung. Ja! Ich bin dabei! Ich möchte auch Veränderung. Ich pflege das Wandeln seit vielen Jahren. Und ich geniesse das Vertrauen von einigen Menschen, sie bei ihrem Wandel begleiten zu dürfen. Das hat mich gelehrt, dass Wandel, echter Wandel, also nicht innerer Waffenstillstand oder äusserer Umzug Zeit braucht. Wandel ist Jäger und Sammler in einem. Er setzt sich ein Ziel (oder mehrere Ziele) und sammelt kleine innere und äussere Bewegungen, die einen Schritt ermöglichen. Und dann den nächsten. Veränderung ist wundervoll vielschichtig und fordert nicht nur ein Umdenken sondern auch ein Umfühlen. Wandel ist nicht möglich, wenn du bleibst wie du bist. Umzug ja. Job kündigen und neuen finden ja. Sich trennen und wieder verlieben ja. Aber ist das ein echter Wandel? Folgt daraus nach dem ersten High nicht oft ein Erwachen, dass das Neue irgendwie mehr und mehr dem Alten gleicht?


Was so einfach klingt kommt manch einem der genügend Bewegungen zu einem nächsten Schritt gesammelt hat vor, als wäre es ein Ding der Unmöglichkeit ihn zu gehen. Und bei denjenigen, bei denen ein Zögern oder gar eine Ängstlichkeit aufflackert, wenn es soweit ist, bei denen bin ich mir fast sicher, dass sie es durchziehen werden. Denn sie wissen was sie tun.

NEULAND


Jemand hat mich gebeten, ein bisschen mehr zum Thema Neuland zu schreiben. Was ich hiermit versuche.


Wir sind grad mitten in einem globalen Neuland. Es gab noch nie eine weltweite physical distancing Verordnung. Und weil wir das noch nicht hatten, es nicht wirklich unserer Art entspricht, stellt es uns alle paar Minuten oder Stunden vor scheinbar banale Fragen wie: darf ich den Hund meiner Nachbarn streicheln, der vor mir steht und mich anwedelt? Meine Gewohnheit und die Freude in meinem Herzen über dieses wedelnde Bündel Leben streckt sofort den Arm aus im unbewussten Wissen, dass mir dieser Moment ein Gefühl von Liebe und Verbindung bescheren wird. Doch STOP! Hunde sollen nicht mehr gestreichelt werden, denn was auf meiner Hand oder einer andern schlummert, könnte über das Fell an eine andere Hand, in die Augen, Nase oder Mund gelangen und so der Virus übertragen werden. Nun gibt es viele Reaktionen auf dieses STOP.  Es kann Ärger, Scham, Schuldgefühl, Gehorsam, Dankbarkeit ob der Information etc. aufkommen. Zusammengefasst kann man sagen: es löst Unsicherheit aus.



Eine altbekannte Form mit Unsicherheit umzugehen ist, einen oder mehrere Schuldige zu finden. Meine Sammlung in diesen Tagen auf Facebook und Youtube: die Presse, Politiker, Banken die Bargeld abschaffen wollen, Investoren die das G5 Netz verbreiten möchten, eine verborgene Elite, die Kontrolle über unsere Freiheit möchte und das eher allgemein gehaltene "dunkle Mächte". Als ob es hilft, die Bösen in diesem „Spiel" ausfindig zu machen. Egal wie böse das Spiel ist und von wem es initiert wurde (falls nicht von uns allen mehr oder weniger weil wir den Lebenswandel haben, den wir seit ca. 60 Jahren haben) der Virus ist da. Neuland wird nicht kommen. Neuland ist da und wird noch vergrössert, weil die entscheidungen, die global gefällt wurden viele Lebensentwürfe auf den Kopf stellen werden.

Wenn ich mir das so vor Augen halte, suche ich halt. Einen Anker.


An was oder wem kann ich mich orientieren??? Nun, ich habe Werte in mir. an denen orientiere ich mich. Meine Ausrichtung auf ein friedliches Zusammensein, meine Werte von Mitgefühl, Integrität, Rücksicht etc. die lege ich mit auf die Waage und dann entscheide ich mit meinem Herzen. Wäge ab.


Da ist zum einen der Bedarf, den Hund zu streicheln und eine Dosis Liebe zu bekommen. Der Ärger darüber, dass ich es nicht darf, der Mangel an Berührung, der sich im Lauf der Zeit erhöht etc. Diese und viele Empfindungen darf ich haben. Aber muss ich danach handeln? Muss ich die Hundehalterin deswegen anklagen oder innerlich niedermachen? Hier habe ICH die Wahl. Ich kann auch einfach versuchen mich in sie einzufühlen. Verstehen, dass sie Angst hat oder respektieren, dass ihre Grenze woanders ist als meine.

Für spirituell Praktizierende: es genügt nicht, dich in Liebe zu hüllen, von ihr zu sprechen. Liebe möchte gelebt werden. Sie stellt dich gerade jetzt immer wieder vor ganz handfeste Fragen im Alltag: was sind deine Werte, die du hoch halten möchtest?


Ich ziehe also meine Hand zurück, entscheide in einer Milisekunde, dass es nicht mein Hund ist, dass die Besitzerin entspannter ist, wenn ich den Hund nicht streichle und damit auch mein Verhältnis mit der Nachbarschaft entspannter. Und: dem Hund ist es egal. Sein Bewusstsein kreist nicht um einen Virus und die Möglichkeit zu sterben. Er wittert spannende Gerüche und einen Hund zum spielen, der gleich ums Eck kommen wird.


Mehr Zukunft in der Gegenwart ist Menschensache.



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KLEINER ALS EINE MÜCKE


Hier in der Schweiz wurde Gestern der Notstand ausgerufen. Ich persönlich verbinde so eine Massnahme mit Krieg. Und als Kind einer Kriegsgeneration schwanke ich zwischen dem Impuls die Angst um mich herum nicht ernst zu nehmen oder hinunter zu stürmen und sozusagen einzukaufen, was noch einkaufbar ist. Und so frage ich mich: was passiert grad?

Es ist, wie wenn der Virus uns in die Augen schaut und sagt: Auch du bist nur und ganz und gar Natur. Wir haben uns eine Welt aufgebaut, in der wir, jeder auf seine/ ihre Art und Weise sicher fühlen. Das ist gut. Wir würden sonst ständig in Angst und Sorge leben. Auto, Bus oder Zug fahren, geschweige denn sich in die Ferien fliegen zu lassen wäre zum Beispiel nur schwer möglich, wenn wir das Bewusstsein der Verletzlichkeit nicht zu einem guten Prozentsatz ignorieren könnten. Menschen haben Technik und Medizin so weit vorangebracht, dass wir uns selbst manchmal schon fast ein bisschen als Maschinen mit Herz missverstehen.

Und nun fragt ein Wesen, das noch kleiner als eine Mücke ist: wie steht es mit eurem Mensch sein? Mit eurer Mit-Menschlichkeit?

Ist dies eine Zeit, in der wir miteinander und füreinander da sind? Eine Zeit, die wir nicht als Werbefläche für unsere eigene Vermarktung missbrauchen? Ist dies eine Zeit, in der wir uns darauf besinnen, dass wir eine grosse Familie sind? Die Familie Mensch…

Falls wir dachten, der Virus ist ein Ereignis, das gleich vorüber sein wird: spätestens jetzt, wo es nicht mehr „nur“ um den Virus und die Ansteckungsgefahr geht, sind wir in einem gemeinsamen Prozess gelandet. in einer Reise, die uns in Neuland führen wird. Welches Neuland? Das ist das Schöne an Neuland: wir wissen es noch nicht. Wir bestimmen alle ein bisschen mit.


Wir bestimmen alle ein bisschen mit.

Mit lieben Grüssen aus einer Schweiz, die zu rufen scheint: mir ist so nach Früh-ling!

TALENT


Ich frage mich manchmal, warum es so besonders sein soll, ein Talent zu haben. Ich kann  ja nichts dafür, dass es in mir ist. Und wenn ich so um mich schaue, dann sehe ich niemanden, der keinerlei Talent hat. Wofür ich aber viel kann, ist, dieses Talent zu leben, es zu fördern und es eventuell damit zur Meisterschaft zu bringen.


Während ich als Kind meine Dinge verschenkte oder wegwarf, wenn ich sie nicht mehr brauchte, verkaufte mein Bruder seine Sachen an Freunde, Bekannte oder Verwandte. Dies ist ein ganz offensichtlich kaufmännisches Talent und es war etwas, womit man etwas hätte anfangen können. Ich komme aber aus einer künstlerischen Familie, und so waren kreative Talente die Rohdiamanten, nach denen man bei uns suchte.


Es gibt Talente, die machen Angst. Ich treffe nicht selten auf Menschen, die sich fürchten, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Sie berichten von Dingen, die sie spüren, sehen oder hören. Von Lichtern, die herumflitzen. Einmal erzählte mir eine Biologin verschämt davon, einem Naturgeist begegnet zu sein. Einfach so. Sie war in der Uni an einem Experiment, und da stand plötzlich eine Art Zwerg vor ihr. Sie kniff die Augen zu, als wäre ihr Blickfeld verschmutzt und sie brauche nur die Scheiben zu wischen, damit die Erscheinung weggehe. Der Geist verschwand aber nicht. Er blieb sogar mehrere Tage bei ihr.


Wenn man so etwas erlebt hat, gibt es nicht viel zu diskutieren. Man macht die Erfahrung, und dann sucht man andere, die hoffentlich auch etwas in der Art erlebt haben. Naturgeister wahrnehmen, kann in der heutzutage ein ganz schön beschämendes Talent sein...


Vor nicht allzu langer Zeit war es noch sehr beschämend, eine Nahtoderfahrung zu machen. Die Sache war derart mit einem Tabu belegt, dass man sich nicht mal traute, jemandem davon zu erzählen. Ähnlich ist es mit Hellhören, Hellsehen und Hellspüren. «Hey Leute, wo ist das Problem?», möchte ich rufen, «Das ist eine Gabe wie das Talent zur Malerei oder zur Musik. Fast alle Menschen können das mehr oder weniger gut. Es gehört zu unserer Grundausstattung und ist nichts Besonderes. Viele kennen das: Man denkt, man sollte wieder mal X oder Y anrufen. Das Telephon klingelt und diese X oder Y ist am andern Ende der Leitung.»


Ich wäre froh gewesen, hätte mir jemand diese Worte zugerufen. Mir war lange nicht klar, dass die Art, wie ich die Welt wahrnehme, ziemlich anders ist, als die übliche und verbreitete Art der Wahrnehmung. Ich dachte, alle würden zwischen den Zeilen hören können und den Körper um den Körper herum fühlen. Ich dachte, allen sei Wissen zugänglich, ohne zu denken. Ich kann mich sogar an eine Zeit erinnern, wo ich nur mit einem kurzen Satz antwortete auf die Frage, wie es mir gehe. Weil ich annahm, mein Gegenüber nehme den Rest ohnehin wahr. Wozu lange berichten, da die Geschichten der Menschen ohnehin aus den Poren sprechen, sie in ihren Augen zu sehen sind und gut sichtbar zwischen den Zeilen stehen? Das musste für andere doch auch bei mir ablesbar sein.


Meine Mutter erzählte mir vor zwei Jahren, dass ich als Kind gelegentlich nach Hause kam und enttäuscht oder verärgert fragte, warum die Leute so schamlos lügten. Ob ich bei denen den Eindruck erwecke, vollkommen blöd zu sein. Heute weiss ich, dass alles ein wenig anders ist. Blöd ist nur, sein Talent nicht zu kennen oder es nicht zu leben.



Veröffentlicht im Magazin Spuren Frühling 2012

AYAHUASCA


Liebe spirituell Suchende und Findende,


in letzter Zeit werde ich häufiger gefragt, warum ich gegen Ayahuasca sei. Leute, ich bin nicht gegen Ayahuasca. Ich kann bloss nicht verstehen, warum man das einnehmen dieser Pflanze als ein spirituelles Erlebnis bezeichnet. Das ist ein bischen wie wenn man behauptet Hamburger vom Fliessband seien eine vitamin- und mineralienreiche Mahlzeit. Keine Frage, es ist ein geschmackliches Erlebnis diesen Hamburger zu essen. Und er sättigt einen. Aber wir sind uns wohl einig, dass er keine abwechslungsreiche, frisch zubereitete Kost ersetzt, geschweige denn den Körper auf Dauer gesund hält.

Gerne möchte ich zurückfragen: warum sind die inneren Bilder und Erlebnisse, die ihr mit Ayahuasca habt spirituell und die Rauschzustände unter Alkoholeinfluss bloss Rauschzustände? Woran macht ihr einen spirituellen Unterschied fest, zwischen einer Halluzination unter LSD und einer Halluzination unter Ayahuasca? Und was am Erlebnis unter Einnahme von Ayahuasca ist spiritueller als unter Einnahme von Marihuana?

Was sie alle gemeinsam haben: es sind Drogen. Ja, es tut mir leid. Und wenn ihr mir sagt, dass ihr Ayahuasca nehmt um ein phantastisches Drogenerlebnis zu haben, ok. Dagegen ist nichts einzuwenden. Mit ein bischen Glück und einem sorgfältigem Umgang kann auch Heilung dabei geschehen. Ein Erlebnis mit LSD kann auch Heilung anstossen, Erkenntnisse über das Unbewusste ans Tageslicht befördern und Marihuana hat nachweislich vielfältige heilende Eigenschaften.


Aber es ist kein spiritueller Weg. Es ist keine Fastfoodtüre in den inneren Himmel. Es ist schlichtweg was es ist. Ein intensives Erlebnis. Ein Rauschzustand, der wieder vorbei geht. Und der kann himmlisch, höllisch oder etwas dazwischen sein. 

WEIHNACHTEN ZU VIERT


Die Aussicht, für Weihnachten vielleicht nicht frühzeitig genug Geschenke organisiert zu haben oder vielleicht kaum welche zu brauchen, weil wir uns dies Jahr nur in kleinen Kreisen treffen dürfen, lässt eine schöne Erinnerung in meinem Innern auftauchen. Wir waren zu viert für das Projekt Mothership-Connection im Dezember nach Tunesien gereist. Mein damaliger Pianist Robi Maurer, die Kunstmalerin Piroska Szönye, eine Fotografin und ich. Ein mutiges kleines KünstlerInnengrüppchen, das mit viel Herzblut, Überzeugungskraft und Lust am Ungewöhnlichen diese Tournée auf die Beine gestellt hatte. Piroska und ich hatten viel Vorarbeit geleistet und als wir dann endlich in Tunesien mit Ausstellungen und Konzerten auf Tour gingen, bemerkten wir in irgend einer kleinen Pause an irgend einem kleinen Ort belustigt, dass unsere Schuhsohlen von den vielen Arbeitsgängen buchstäblich abgelaufen waren. Piroskas Schuh war sogar so abgerieben, dass ein Zeh durch eine Ritze wohl schon länger heimlich frische Luft „geatmet“ hatte und nun durch den Seitenausgang das Licht der Welt erblickte.

Und plötzlich - es kam uns plötzlich vor, weil wir dermassen mit Reisen, Interviews, Konzerten, Ausstellungseröffnungen und Begegnungen mit Ansässigen Künstlern beschäftigt waren - sassen wir in der Lobby eines Hotels und bemerkten, dass es Weihnachten war. Weihnachten. Moment mal. Weihnachten! Man konnte förmlich spüren, dass wir nun auf einen Schlag alle gleichzeitig unsere Familien vermissten. Das warme Gefühl, wenn draussen kalt ist und drinnen geheizt. wenn Schnee fällt und alles wie unter Zuckerguss einwenig leiser erscheint. Wir schauten uns an. Unsere schweizer Körper sagten: Entspann dich, es ist Sommer. In unseren Köpfen aber dämmerte es uns, dass Santaklaus hier in Tunesien wohl in kurzen Hosen heimlich Geschenke auf Sandalen gelegt hatte und es hier und jetzt nun tatsächlich Weihnachten war.

Mir fiel die kleine Taschenkrippe ein, die ich eingepackt hatte und ich sagte: „Oh, ich hab uns was mitgebracht!“ sogleich rannte ich in mein Hotelzimmer und brachte mein Mitbringsel aus der Schweiz inlusive Rechaudkerze zurück an den Lobbytisch. 

Stellt euch nun Folgendes vor: Zwei Halbjuden/Halbchristen und zwei Christen in einem vorwiegend muslimischen Land. Alle vier nicht im traditionellen Sinne gläubig in einer kühl gehaltenen Lobby eines Kühlgehaltenen Hotels nun ganz gerührt vor einer faustgrossen Krippe sitzend, die Frage in sich wiegend: „Und jetzt“? In dieser Stimmung wagte ich etwas vorzuschlagen, das ich mich an einem andern Ort mit andern Umständen nicht getraut hätte: „Wie wäre es, wenn wir einander etwas Nichtmaterielles schenken? Wenn wir uns alle gut überlegen, was für den jeweils Anderen ein guter Wunsch wäre? Also jeder überlegt sich drei Wünsche? Aber so richtig passende. Und dann packen wir sie für das Gegenüber eins nach dem andern aus, indem wir es dem Andern erzählen.“

Es ist so schön, wenn eine Idee gleich auf fruchtbaren Boden fällt! Und was soll ich sagen: diese Weihnacht von damals und was wir daraus gemacht haben, wurde auf schönste Weise eine Weihnacht, die mir ein Lächeln ins Gesicht zaubert, wenn ich mich wie jetzt daran erinnere.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen, dass wir das Beste aus diesen kommenden  Tagen machen. (Und manchmal möchte man dieses Beste im Nachhinein nicht missen.)


Mit vorweihnachtlichen Channukagrüssen

WIE GEFÄHRLICH IST ES, AUS DER LIEBE ZU FALLEN?


Vor drei Wochen wurde ich mit der Frage konfrontiert: „Warum meldest du dich in den sozialen Medien nicht mehr zu Wort?“ 


Ich lese auf meiner Facebook Timeline interessiert Ansichten, gehe manchen Behauptungen nach. Mal in die eine Richtung, mal in die andere Richtung. Was mich immer schweigsamer hat werden lassen, sind nicht die verschiedenen Ansichten. Es ist der Umgangston, die Art und Weise, wie die Meinungen vertreten werden. „Schlafschaf“, „Verschwörungstheoretiker“, Aluhutträger“, das sind alles Bezeichungen, die den Andern entwerten. Sie beschädigen unsere Psyche. Sie verändern unsere Haltung. Sie machen klar, dass man von einem (Cov)Idioten spricht (und man selbst (Cov)Intelligent ist). 

Man spricht nicht von Jemandem, der eine andere Überlebensstrategie fährt. Von Jemandem der in dieser Zeit die Ängste auf einem andern Kanal aktiv hat als man selber. Von Jemandem, mit dem man auf Augenhöhe die eigene Meinung ins Wanken geraten lassen kann. 


Meine Frage in dem Ganzen, die mich immer leiser hat werden lassen ist: Wie gefährlich ist es, aus der Liebe zu fallen? Aus dem „einander verstehen wollen“? Aus dem echten Respekt füreinander? Bei Partnerschaften ist das der Moment, wo die Verbindung Schaden erleidet. Wo Worte in einem lieb-losen Tonfall gesagt werden, für die man sich später schämt. 

Die Achtung voreinander und Achtsamkeit füreinander, die in Überheblichkeit, Agression oder Ignoranz umschlägt ist, wenn man genauer hinschaut, selbstverletzend. Sie verändert die innere Haltung Andersdenkenden und Andersfühlenden gegenüber. 

Diese Zeit in der wir leben, hat um viele Lebensentwürfe ein erschütterndes Fragezeichen gelegt. Die Aussicht, dass das Masketragen irgendwann nicht mehr notwendig - Not wendend - ist, gibt mir Hoffnung. Denn die Vorstellung, dass wir in Zukunft in geschlossenen Räumen immer Masken tragen müssen ist eine Vorstellung in die ich nicht hineinleben möchte. Sie bereitet mir echt Sorge. Vorallem seit ich durch einen grossen Flughafen mit nur maskentragenden Menschen gegangen bin. Von der Luft unter der Maske bekomme ich ein Brennen in der Brust. Die Stimme hinter der Maske ist oft schwer zu verstehen. Und Menschen mit Maske wirken auf mich im wahrsten Sinne des Wortes gesichtslos. Distanziert. Anonymisiert. Da bin ich ganz dabei mit der Frage: ist diese Massnahme wirklich angemessen? Die darf man ja stellen. Und immer wieder und nochmal. Denn die Dinge ändern sich und das Wissen über das Virus auch. 


Für jemand Andern wiegen diese Sorgen nicht so schwer, wie die Sorge um die Gesundheit von Angehörigen oder von einem Selbst. Neulich habe ich eine Gruppe geleitet, in der drei Frauen waren, die zuhause einen schwer kranken Mann haben. Da war für uns alle selbstverständlich, dass wir uns möglichst an alle Regeln halten. 

Und im Flugzeug dann, als ein schwitzender, keuchender Mann neben mir sass, war ich froh um die Maskenpflicht. 

Wenn man in Google „Mann ohne Maske geschlagen" oder „ Frau wegen Maske geschlagen" eingibt, erscheinen Geschichten, wo Menschen regelrecht verprügelt wurden, weil sie keine Maske auf hatten. Oder umgekehrt ein Busfahrer wurde verprügelt, weil er eine Gruppe junger Männer ohne Maske nicht einlassen wollte. Da sind wir ganz bei der Agression angelangt. Da haben wir die Möglichkeit verloren, die die Liebe anbietet. Die Frage: trägt der Mann vielleicht keine Maske, weil er Asthma hat? Oder weil er psychisch in Not gerät beim Tragen einer Maske? Da hat die Kommunikation derart Schiffbruch erlitten, dass keine Fragen mehr gestellt werden. 


Wie gefährlich ist es, aus der Liebe zu fallen? 

OKTOBER 2023


Die Meisten von uns schütteln die Ereignisse im nahen Osten regelrecht durch. Und das ist auch richtig so. Denn wer fähig zu Empathie ist - also so ziemlich alle Menschen - wird jetzt wahrscheinlich nahe einer Überforderung sein. Mir hilft es, Menschen zuzuhören, die dabei helfen einzuordnen, was gerade alles auf einmal geschieht. es tut mir gut, wenn jemand die Dinge - gerade in dieser Zeit - beim Namen nennen kann, ohne zu polarisieren. Wenn jemand sortiert und so einordnet, dass sie nicht verwischen.  

Denn  es ist wirklich wichtig, dass wir uns nicht verführen lassen, alles in einen Topf zu schmeissen, umzurühren und daraus Worte und Bezeichnungen fischen, die zu Polarisierung führen. 

Worte wie Genozid, Kolonialisierung und Völkermord sind sehr einladend zu benutzen, wenn man sich Gehör verschaffen oder Klicks generieren möchte. Von Facebook und Co. haben einige gelernt, dass wenn wir uns in Extremen ausdrücken, wir Reaktionen bekommen. Also benutzen sie solche Worte. 

Aber wollen wir uns wirklich so weit einspannen lassen, dass wir begriffe und Ausdrucksweisen übernehmen oder weiterleiten nur wegen der Klickzahl und nicht, weil wir mithelfen wollen zu Deeskalieren? ich denke da auch an Organisationen wie Amnesty International und Friday for Future um nur zwei zu nennen, die sich dieser Strategie bedienen.

Wollen wir von aussen Mitgefühl, ein offenes Ohr, breite Schultern und Hilfe anbieten oder Öl ins Feuer der Polarisierung giessen? 

Meine Quelle der Inspiration ist zum Beispiel Yuval Noah Harari. Er ist Historiker der nicht nur eine differenzierte Sicht nach Hinten pflegt, sondern auch Zukunft im Blick hat. Man findet ihn auf Youtube. 

Oder Correctiv.org. Das ist ein unabhängiger Faktenchecker. Man kann dort sogar Screenshots einreichen, wenn man selbst nicht rausfinden kann, ob etwas so geschehen ist oder gesagt wurde. Ich finde, es wird immer wichtiger genau zu überprüfen, von wo eine Information kommt und ob sie stimmt. 

LESEPROBE VOM BUCH „HERZSCHLAG UND TROMMEL“ Mein Weg zur Schamanin


Im «Schamanischen» ... ... Diesem Wort sollte ich zum ersten Mal in einem Kinofilm begegnen. Eine Freundin lud mich ein, sie ins Kino zu einem Film über Schamanen zu begleiten. Ich glaube, ich hatte mir bis dahin noch nie so häufig in einem Kino Augen und Ohren zugehalten. Alle paar Minuten musste ich mich im Sitz vergraben, die Augen zusammenkneifen, mir die Ohren zuhalten da ich nicht ertrug, was ich vor mir auf der Leinwand sah. «Gott, mach dass es bald vorbei ist!», flehte ich still während der Vorstellung. Beim Verlassen des Kinosaals blickte ich meine Wohltäterin an und sagte erleichtert: «Bin ich aber froh, dass ich nicht eine von denen bin!» Der Umgang mit Geistwesen, mit der Anderswelt, das Heilen in Zusammenarbeit mit der nicht sichtbaren Welt, ... das war all das, womit ich nichts zu tun haben wollte! Nur weg von hier. 

Ein paar Wochen später schleppte mich dieselbe Freundin zu einem Kurs mit einer Schamanin aus Neuseeland. Mir gefiel die Idee zunächst richtig gut und ich nahm die Einladung dankend an. Als der Tag der Abreise jedoch immer näher rückte, spürte ich mehr und mehr, dass dieses Seminar nichts für mich war. Und so liess ich am Abreisetag meine Freundin wissen, dass ich es mir anders überlegt habe. «Wie bitte?» «Ich komme nicht. Das ist nichts für mich. Tut mir leid, da musst du alleine hin.»» – «Bist du verrückt? Das Seminar ist schon bezahlt! Du kannst doch nicht einfach sagen sorry, ich komm doch nicht mit!» Hm. Da hat sie recht. «Ok. Ich komme mit, aber unter der Bedingung, dass ich, wenn es mir dort nicht zusagt, gehen darf.» Meine Freundin verdrehte die Augen und sagte, ok, frühestens nach einem Tag würde ich frei sein, mich zu entscheiden. Deal. 

So fuhren wir zerknirscht in Richtung München. Dort angekommen nehme ich die Koffer aus dem Wagen, gehe an der Rezeption vorbei die Treppe hoch, betrete das Zimmer, verweile eine Minute, drehe mich auf dem Absatz herum und gehe den selben Weg zurück an der Freundin vorbei in Richtung «weg von hier»». «He! Wo gehst du hin?»» – Ich: «Na, zum Bahnhof.»» – Mit mittlerweile genervtem Ton ruft sie: «Wieso zum Bahnhof?»» – «Wir haben abgemacht, dass ich, wenn es mir hier nicht gefällt, nach Hause fahren darf. Es gefällt mir hier nicht.»» – «Moment mal, unsere Abmachung war, dass du frühestens nach einem Tag gehen kannst!»» Knirsch. Dass sie auch immer alles so genau nehmen musste ... Ich drehe mich also wieder um und gehe brav zurück in die Höhle der Löwin.

Wir sitzen im Seminarraum und eine niedliche ältere Dame kommt herein. Das ist also die Schamanin?! Da hatte ich wohl ein bisschen vorschnell meine Bedenken. Sie ist sympathisch und beginnt auf Englisch Geschichten zu erzählen. Ich versinke in eine Art Halbschlaf. Sie redet und redet, und ich beginne zu träumen, ohne zu träumen, bis sie nach ungefähr zwei zerredeten Stunden unvermittelt sagt: «And now we open the four directions.»» Four directions? Was in drei Himmels Namen sind four directions? Wir stehen auf, und es sehen alle so aus, als ob sie genau wüssten, was sie meint. Sollen sie halt die four directions öffnen. Ich höre «bla bla bla bla bla»», «bla bla bla»», und dann drehen sich alle dem Westen zu. Da ich nicht zugehört habe, weiß ich nicht, dass sie der Himmelsrichtung des Westens die Ahnen zuordnet. Sie beginnt also mit «blablabla, bla bla ...», und in mir tut sich so etwas wie eine Schleuse auf, ein Strom von Empfindungen, Gefühlen und Anwesenheiten stürzt auf mich ein. Ich weiß nicht wie mir geschieht, und schon gar nicht weiss ich, wie ich das stoppen könnte und gerate innerlich leicht in Panik. 

Wir sollen jetzt zum Abendessen gehen, aber ich fühle mich gar nicht danach. Ich fühle mich wie ein Schweizer Birchermüesli mit viel zu vielen und mit den falschen Zutaten. Ein Chaos in mir. Meine jüdischen Vorfahren und die deutschen Vorfahren der Teilnehmer im Raum treffen in meinem Körper aufeinander.  Bumm! Ich kann kaum noch stehen und ziehe mich in mein Zimmer zurück, wo ich immer krassere Schmerzen bekomme, die in meinem Körper innert Sekunden von einem Ort zum andern wechseln. Plötzlich könnte ich mich übergeben, dann blitzt extremster Kopfschmerz auf, der ins Knie rutscht und so weiter. Als meine Freundin zur Türe reinkommt und mich sieht, ruft sie: «Um Gottes Willen, du bist grün und gelb im Gesicht! Was ist los mit dir?!» Ich kann kaum sprechen und so eilt sie zum Großmütterchen. Diese ist grad dabei, die Treppe zum Seminarraum zu erklimmen und antwortet ihr: «Das ist gut. Bring sie rauf. Ich bin eine starke Schamanin. Sag ihr, die einzige Bedingung, die ich habe ist, dass sie mir vertraut.» 

Na, da hat sie mir ja eine große Wahl gelassen. Zwei Leute müssen mich beinahe hochtragen, da ich kaum gehen und nur noch verschwommen sehen kann. Ich kämpfe innerlich um mein Recht, im Körper zu bleiben und werde im Seminarraum auf einen Stuhl gesetzt. Von da weg bekomme ich von Minute zu Minute weniger mit. Ich erinnere mich noch, wie sie mich fragt, ob einer der Kursteilnehmer als Stellvertreter für meinen Vater etwas für mich tun darf. Ich schaue diesen Mann an und erkenne nicht nachvollziehbar aber sofort, dass er ein Nachfahre von einem Vater ist, der als Nazi bei der Gestapo war, und fühle einen Schrei in mir aufsteigen. Nun höre ich mich schreien, und dazu denke ich: Komisch, das hört sich sehr schmerzhaft an, innerlich fühle ich mich jedoch total entspannt und gut. An den weiteren Teil des Abends kann ich mich nicht erinnern. Heute weiß ich, dass ich an dem Abend in Trance gefallen bin. Damals war das nur eigenartig. 

So nach einer Stunde kam ich wieder zu mir. Ich öffnete die Augen und sah wie die Teilnehmenden sich in den Armen lagen. Ich fand es leicht befremdlich, dass der Raum grad eben noch so normal gewesen war, und nun lagen sich die meisten weinend und tröstend in den Armen. Ich selbst hatte jetzt einfach nur Hunger. Ich wollte endlich zu Abend essen. 

Am nächsten Tag trat Wai – so hieß die «kleine, süße» Schamanin – zum Frühstück an meinen Tisch und fragte mich, ob ich wisse, dass ich schamanische Energien in mir trage. «Shamanic energies? Me? No.» Sie ließ es gut sein, und wir verbrachten den ersten Seminarmorgen. Beim Mittagessen kam sie wieder an meinen Tisch. Wir redeten aneinander vorbei über dies und das. Dann schaute sie mich an und fragte nochmals: «Do you know that you carry shamanic energies?» – «No.» Wieder wendete sie sich ab und ging ihres Weges. 

Am Abend, kurz nachdem alle meinen Tisch verlassen hatten und ich abräumen wollte, kam sie wieder. «Do you know that you carry shamanic energies?» Ich wollte Luft holen, um wieder zu verneinen, da haute sie ihre Faust auf den Tisch. «Ich hab es jetzt drei Mal zu dir gesagt. Nun kannst du kein schwarzes Tuch mehr darüber werfen! Jetzt musst du es dir anschauen!» 

Ich wusste nicht warum, aber mir schossen die Tränen in die Augen, und Wai sagte: «Ich weiß, warum du weinst.» Nun begann auch sie zu weinen. «Es ist die Verantwortung. Und die Bestimmung. Andere können wählen was sie sein wollen. Wir beide nicht. Wir können uns nicht auswählen, was wir werden möchten und wie wir das leben wollen. Heiler können beschließen, dass sie Heiler werden wollen, und sie können sich verschiedene Heilweisen aneignen, die sie interessieren. Wir aber werden irgendwann gerufen, und dann sind wir aufgefordert unsere Gabe zu leben. Wenn wir das nicht tun ... na, du hast nun ja erfahren, wie sich das anfühlt.» Und so weinte ich mit der Frau, die meine Lehrerin werden sollte im tiefen Verstehen von etwas, das für meinen Kopf noch nicht zu fassen war. 

Bevor ich aber meine Reise beginnen sollte, unternahm ich noch einen letzten Fluchtversuch. Kurz nach der Abschlusszeremonie räumte ich schnell meine Sachen zusammen und verließ sofort den Raum. Aaaber, da hatte ich die Rechnung ohne meine Begleiterin gemacht. Sie ging nach vorne und sagte: «Nun, da du ihr gesagt hast, dass sie eine Schamanin ist, wie geht es mit ihr weiter? Ich meine, was soll nun  geschehen?» Wai überlegt für ein paar Sekunden, dann sagt sie: «Nächste Woche ist ein Seminar. Sie soll da hinkommen. Sie soll nicht rumsitzen. Die muss arbeiten. Sie wird meine Assistentin. Danach fängt eine Weiterbildung an. Dort kann sie auch assistieren und dann einfach überall, wo ich bin. Die Daten sind auf meiner Website.» Na, vielen Dank!

OK